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Mandanteninformationen   

März 2017 Mandanteninformation als PDF downloaden

BSG vom 25. Oktober 2016, Az. B 1 KR 22/16 R u. a. - Analyse

Mit unserer Mandanteninformation vom November 2016 hatten wir bereits über die Entscheidungen des BSG vom 25. Oktober 2016, Az. B 1 KR 22/16 R u. a., und den Ausgang der mündlichen Verhandlungen informiert. Mittlerweile liegen die Entscheidungsgründe hierzu vor.

Die Krankenkassen gingen schon unmittelbar nach dem 25. Oktober 2016 dazu über, bereits gezahlte Aufwandspauschalen aus dem Jahr 2012 zurückzufordern. Angesichts der drohenden Verjährung wurden zum Jahresende die entsprechenden Klagen erhoben bzw. die behaupteten Rückforderungsansprüche mit Forderungen der Krankenhäuser verrechnet.

1. Sachverhalt

Das BSG hatte über mehrere gleichlautende Entscheidungen der Instanzgerichte zu entscheiden, die den klagenden Krankenhäusern jeweils die Aufwandspauschale zuerkannten, nachdem die Krankenkasse über den MDK jeweils eine Prüfanzeige übersandte, in der ausdrücklich eine Prüfung nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V i.V.m. § 275 Abs. 1c SGB V angezeigt wurde. (Gegenstand der Prüfung war die Kodierung von Diagnosen und Prozeduren.) Die Prüfanzeigen des MDK stammten teilweise noch aus der Zeit vor der „Erfindung" der sachlich-rechnerischen Prüfung durch das BSG mit der Entscheidung vom 1. Juli 2014, Az. B 1 KR 29/13 R.

2. Inhalt der Entscheidungsgründe

Die Entscheidungsgründe enthalten die folgenden Kernaussagen:

  • Das Recht der Krankenkassen auf Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit besteht unabhängig von den – engeren – Anforderungen einer Auffälligkeitsprüfung gemäß § 275 Abs. 1c SGB V. Die Rechtsgrundlage für diese Prüfung sieht das BSG in § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V i.V.m. „den allgemeinen bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen der Rechnungslegung." Ein Anspruch auf Zahlung der Aufwandspauschale besteht bei dieser Prüfung nicht.
  • Die von dem Krankenhaus nach § 301 SGB V übermittelten Daten sind keine Fakten, sondern Ergebnisse rechtlicher Subsumtion. Das Gesetz erlaubt und gebietet es den Krankenhäusern, die für die Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit erforderlichen Sozialdaten und ggf. Unterlagen an den MDK zu übermitteln.
  • Datenschutzrechtlich ist das Krankenhaus nicht daran gehindert, zur Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit Behandlungsunterlagen direkt an den MDK zu übermitteln. Dies ergibt sich aus entsprechender Anwendung des § 276 Abs. 2 SGB V.
  • Die Krankenhäuser müssen die Krankenkassen durch Übermittlung von Behandlungsdaten in die Lage versetzen, die angegeben Diagnosen und Prozeduren zu prüfen. Fehlt es an diesen Informationen, tritt mangels formal ordnungsgemäßer Abrechnung keine Fälligkeit der Abrechnung ein. Rechtsgrundlage für die Übermittlung der Behandlungsdaten ist § 301 SGB V.
  • Die Auffälligkeitsprüfung ist wie folgt von der Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit abzugrenzen: Auffälligkeiten als Voraussetzung einer Auffälligkeitsprüfung liegen vor, wenn die Abrechnung oder die vom Krankenhaus zur ordnungsgemäßen Abrechnung vollständig mitgeteilten Behandlungsdaten oder weitere zulässig von der Krankenkasse verwertbare Fragen nach der Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots aufwerfen, die die Krankenkasse nicht aus sich heraus ohne weitere medizinische Sachverhaltsermittlung beantworten kann. Die Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit bezieht sich dagegen auf unzutreffende Sachverhaltsangaben (bei der Datenübermittlung) oder fehlerhafte Subsumtion (die Beantwortung der Frage, ob der Gesundheitszustand des Patienten und der Behandlungsverlauf nach den Abrechnungsregeln korrekt kodiert wurden).
  • Auf den Inhalt der Prüfanzeige des MDK darf sich ein Krankenhaus nicht verlassen.

3. Fazit und Empfehlungen

Sofern die Prüfanzeige des MDK mehrdeutig ist, kommt es darauf an, ob der Inhalt des Prüfauftrages mitgeteilt wurde und eine Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit erkennen ließ. Keine Rolle spielt es, ob der MDK sich auf § 275 Abs. 1c SGB V berief. Es reicht aus, wenn der MDK das Krankenhaus über den Inhalt des Prüfauftrages informiert. Es ist unschädlich, wenn der MDK die im Ergebnis nicht zutreffende Rechtsansicht äußert, Rechtsgrundlage für seine Prüfung sei § 275 Abs. 1 c SGB V.

Nach den Vorstellungen des BSG setzt die Fälligkeit der Abrechnung nicht nur die Datenübermittlung gemäß § 301 SGB V voraus, sondern das Krankenhaus ist gehalten, von sich aus der Krankenkasse oder dem MDK die Kodierung zu erläutern. Erst nach Lieferung dieser Informationen kann die Abrechnung fällig werden. Damit stellt sich die Frage, ob Krankenhäuser zukünftig schon mit der Abrechnung sämtliche Behandlungsunterlagen an die Krankenkasse übermitteln müssen, um die Fälligkeit der Abrechnung herbeizuführen. Das BSG äußert sich hierzu nicht eindeutig, sondern verweist auf § 301 SGB V und die Übermittlung von „Behandlungsdaten", ohne die Frage zu beantworten, ob hierunter mehr als der Datensatz nach § 301 SGB V zu verstehen ist.

Mit keinem Wort geht das BSG auf die Frage ein, warum die Änderung seiner Rechtsprechung auch auf Fälle vor dem 1. Juli 2014 Anwendung finden sollte. Erstmals mit der Entscheidung vom 1. Juli 2014, Az.: B 1 KR 24/13 R, vertrat das BSG nämlich die Auffassung, dass für die Prüfung der sachlich rechnerischen Richtigkeit ein eigenes Prüfregime gelte, das den Anspruch auf die Aufwandspauschale nicht auslösen soll. Noch mit seinen Entscheidungen vom 22. Juni 2010, Az. B 1 KR 1/10 R, und vom 28. November 2013, Az. B 3 KR 4/13 R, vertrat das BSG die Auffassung, dass auch Kodierprüfungen den Anspruch auf Zahlung der Aufwandspauschale auslösen können. In der Entscheidung aus dem Jahr 2010 war die Kodierung einer Hauptdiagnose streitig. Das BSG stellte hierzu ausdrücklich fest, dass die Grundvoraussetzungen des Anspruchs auf die Aufwandspauschale nach § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V erfüllt waren. Mit der jetzigen Argumentation des BSG ist diese Rechtsprechung überhaupt nicht vereinbar. Auch in der Entscheidung aus dem Jahr 2013 sprach das BSG dem klagenden Krankenhaus die Aufwandspauschale zu, obwohl Gegenstand des MDK-Prüfverfahrens die ordnungsgemäße Kodierung eines OPS-Kodes war.

Angesichts der Widersprüche zwischen der früheren und der aktuellen Rechtsprechung des BSG müsste den Rückforderungsansprüchen der Krankenkassen vor dem 1. Juli 2014 (maßgeblich ist der Zeitpunkt der Fälligkeit der Aufwandspauschale) der Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegenstehen. Das BSG hat sich hierzu noch nicht geäußert.

Das Bundesverfassungsgericht macht hierzu folgende Vorgaben:

„Die Änderung einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes grundsätzlich dann unbedenklich, wenn sie hinreichend begründet ist und sich im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung hält. Soweit durch gefestigte Rechtsprechung ein Vertrauenstatbestand begründet wurde, kann diesem erforderlichenfalls durch Bestimmungen zur zeitlichen Anwendbarkeit oder Billigkeitserwägungen im Einzelfall Rechnung getragen werden." (BVerfG vom 15. Januar 2009, Az. 2 BvR 2044/07.)

Es lässt sich schon trefflich darüber streiten, ob die aktuellen Entscheidungen des BSG „hinreichend begründet" sind, keinesfalls halten sie sich „im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung". Damit sind aus Gründen des Vertrauensschutzes Einschränkungen zur zeitlichen Anwendbarkeit bzw. im Einzelfall Billigkeitserwägungen geboten. Unserer Auffassung nach ist der zeitliche Anwendungsbereich dieser Rechtsprechung auf den Zeitraum ab dem 1. Juli 2014 zu beschränken.

Aufwandspauschalen, die vorher fällig wurden, können nach der alten Rechtslage weiter geltend gemacht werden. Rückforderungsansprüche für bereits vor dem 1. Juli 2014 gezahlte Aufwandspauschalen sollten zurückgewiesen werden. Absehbar ist aber, dass das BSG weiter an seiner Rechtsprechung festhalten wird. Es wird zu dieser Frage wohl auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinauslaufen. Unter Kostengesichtspunkten empfiehlt es sich daher, Musterverfahren zu führen.

Rückforderungsansprüchen der Krankenkassen kann noch ein weiteres Argument entgegengehalten werden: Nach § 814 BGB kann das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete nicht zurückgefordert werden, wenn der Leistende gewusst hat, dass er zur Leistung nicht verpflichtet war. Die Krankenkassen behaupten nichts anderes, als dass sie bereits zum damaligen Zeitpunkt eine Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtig-keit durchführten. Wird diese Behauptung ernst genommen, kann eine bereits gezahlte Aufwandspauschale aber nicht zurückgefordert werden.

Das Thema Aufwandspauschale wird die Gerichte weiter beschäftigen. Den umfangreichen Rückforderungsbegehren der Krankenkassen für gezahlte Aufwandspauschalen bis zum 1. Juli 2014 sollte entgegengetreten werden, da die neuen Entscheidungen keine Grundlage dafür bieten.

Anhängige Klagen auf (erstmalige) Zahlung der Aufwandspauschale müssen kritisch hinterfragt werden. Jedenfalls für den Zeitraum bis zum 1. Juli 2014 sollte die Frage der Rückwirkung der BSG-Rechtsprechung in Musterverfahren geklärt werden.

Für den Zeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 31. Dezember 2015 haben Klagen auf (erstmalige) Zahlung einer Aufwandspauschale bei Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit – jedenfalls derzeit – in höchster Instanz keinen Erfolg mehr. Gleichwohl ist zu empfehlen, Einzelfälle stets auf ihre Vergleichbarkeit mit den durch das BSG entschiedenen Sachverhalten zu prüfen. Gegen die Entscheidungen des BSG wurde nach unseren Informationen zudem Verfassungsbeschwerde eingelegt. Sollte das Bundesverfassungsgericht diese Entscheidungen – z. B. wegen Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 3 GG – aufheben, könnte die Aufwandspauschale auch für diesen Zeitraum wieder geltend gemacht werden.