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BSG vom 23. Mai 2017 - Kommentar

Das Bundessozialgericht verhandelte am 23. Mai 2017 über eine Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfalen zu Nachforderungen im Wege der Rechnungskorrektur und zwei Entscheidungen des LSG Niedersachsen-Bremen und des SG Marburg zur Aufwandspauschale.

1. BSG vom 23. Mai 2017, Az. B 1 KR 27/16 R – Nachforderung mittels Rechnungskorrektur

Das BSG bestätigte die Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfalen vom 22. September 2016, Az. L 5 KR 396/16, mit der das LSG Nordrhein-Westfalen eine Nachforderung mittels Rechnungskorrektur nach Ablauf eines weiteren vollen Haushaltsjahres für unzulässig erklärte, obwohl der Inhalt der Rechnung zwischen Krankenhaus und Krankenkasse streitig war und Gegenstand eines MDK-Prüfverfahrens war. Das LSG war der Auffassung, dass die Krankenkasse hinsichtlich des ungeprüften Teils der Rechnung mit Ablauf eines vollen Haushaltsjahres ab Rechnungslegung ein schutzwürdiges Vertrauen entwickelte, sodass eine Nachforderung des Krankenhauses nach den Grundsätzen von Treu und Glauben verwirkt sei. Nur hinsichtlich des streitigen Rechnungsteils könne die Krankenkasse kein schutzwürdiges Vertrauen entwickeln. Hinsichtlich des streitigen Rechnungsteils sei seine Nachberechnung auch nach Ablauf eines vollen Haus-haltsjahres noch zulässig.

Das BSG wies die Revision des Krankenhauses gegen diese Entscheidung zurück. Nach Auffassung des BSG wurde das schützenswerte Vertrauen der Krankenkasse in den Bestand der Ausgangsrechnung nicht dadurch erschüttert, dass sie die Richtigkeit dieser Rechnung im Ergebnis des von ihr eingeleiteten MDK-Prüfverfahrens selbst – teilweise – verneinte. Da die Krankenkasse im zu entscheidenden Fall nur die medizinische Notwendigkeit der stationären Behandlung prüfte, sollte sie nach Auffassung des BSG ein schützenswertes Vertrauen in die Richtigkeit der – ungeprüften – Kodierung entwickeln können.

Das BSG verschärft damit seine bisherige Rechtsprechung, wonach Rechnungskorrekturen nur bis zum Ablauf eines vollen Haushaltsjahres ab Rechnungslegung zulässig sein sollen. Diese Rechtsprechung dehnt das BSG jetzt auf Fälle aus, in denen die Richtigkeit der Rechnung auf Grund eines laufenden MDK-Prüfverfahrens zwischen Krankenhaus und Krankenkasse streitig ist. Das BSG bestätigt, dass ein schutzwürdiges Vertrauen der Krankenkasse trotz laufenden MDK-Prüfverfahrens hinsichtlich aller ungeprüften Rechnungsteile entstehen kann und eine Verwirkung nur für die Rechnungsteile ausgeschlossen ist, die Gegenstand des MDK-Prüfverfahrens waren.

Ob insoweit nur zwischen den Prüfungsgegenständen medizinische Notwendigkeit und Kodierung unterschieden werden muss oder ob zum Beispiel die Krankenkasse einzelne Nebendiagnosen prüfen darf und sich darauf berufen darf, hinsichtlich der anderen Nebendiagnosen auf deren Richtigkeit vertraut zu haben, muss abgewartet werden. Über diese Frage hatte das BSG im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden.

Weiterhin verwundert es, wie zwangslos das BSG das Rechtsinstitut der Verwirkung auf Fälle der Rechnungskorrektur durch Krankenhäuser anwendet. Grundsätzlich kann ein Anspruch erst verwirken, wenn er längere Zeit hindurch nicht geltend gemacht wird (Zeitmoment) und der Verpflichtete sich nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten darauf einrichten durfte und auch tatsächlich einrichtete, dass dieser das Recht auch in Zukunft nicht geltend machen wird (Umstandsmoment). Auf Grund des bloßen Zeitablaufs kann in keinem Fall ein Vertrauenstatbestand geschaffen werden. Es müssen darüber hinaus stets noch besondere Umstände vorliegen, die die Feststellung rechtfertigen, der Schuldner habe bereits darauf vertrauen können, dass der Gläubiger die Forderung nicht mehr geltend macht. Hierfür reicht die bloße Untätigkeit des Gläubigers nicht aus. Das Umstandsmoment setzt auf Seiten des Schuldners nicht nur ein schutzwürdiges Vertrauen voraus, sondern erfordert darüber hinaus, dass sich der Schuldner – insbesondere durch die Vornahme von entsprechenden Vermögensdispositionen oder anderen Vertrauensinvestitionen – auch tatsächlich darauf eingerichtet hat, nicht mehr leisten zu müssen. Der Schuldner muss dies konkret darlegen. Anderenfalls kann die späte Rechtsausübung durch den Gläubiger keine unzumutbare Härte für den Schuldner darstellen (z. B. BGH vom 14. November 2002, Az. VII ZR 23/02).

An der Rechtsprechung des BSG ist nach wie vor zu bemängeln, dass gerade das Umstandsmoment ohne überzeugende Begründung immer wieder bejaht wird. Das BSG stellt lediglich auf die Rechnungslegung des Krankenhauses ab. Hiermit soll das Krankenhaus Umstände geschaffen haben, die ein schutzwürdiges Vertrauen der Krankenkassen rechtfertigen. Es handelt sich dabei aber nur um eine Voraussetzung für die Annahme des Umstandsmoments. Darüber hinaus wäre zu fordern, dass die Krankenkasse den Nachweis erbringt, sich tatsächlich durch konkrete Vermögensdispositionen auf die Richtigkeit der jeweiligen Rechnung eingerichtet zu haben. In bislang keinem der von dem BSG entschiedenen Fälle finden sich hierzu Feststellungen. Es wird immer nur konstatiert, dass Krankenkassen grundsätzlich davon ausgehen dürfen, dass einmal gestellte, nicht beanstandete Rechnungen von den Krankenhäusern nicht zu einem Zeitpunkt nachträglich korrigiert werden, der ihre Kalkulation beeinträchtigt.

Diese Behauptung ist aber noch lange nicht mit entspre-chenden Vermögensdispositionen der Krankenkassen gleichzusetzen. Die Krankenkassen können sich insoweit auch nicht auf den jeweiligen Jahresabschluss berufen, da dieser nur Auskunft über die finanzielle Lage der Krankenkasse zum Ende des Haushaltsjahres geben soll und hieraufhin keine Vermögensdispositionen der Krankenkassen getroffen werden. Auch in anderen Wirtschaftszweigen käme niemand auf die Idee, einen Gläubiger vor Ablauf der Verjährung mit der Geltendmachung von Forderungen auszuschließen, nur weil der Schuldner zwischenzeitlich seinen Jahresabschluss fertig stellte.

2. BSG vom 23. Mai 2017, Az. B 1 KR 28/16 R und B 1 KR 24/16 R – Aufwandspauschale

In zwei weiteren Fällen hob das BSG auf die Revision der Krankenkassen hin die Entscheidungen des LSG Niedersachen-Bremen und des SG Marburg auf und wies die Klage des Krankenhauses auf Zahlung der Aufwandspauschale ab.

Das LSG Niedersachsen-Bremen hatte dem Krankenhaus die Aufwandspauschale noch zugesprochen, nachdem die Krankenkasse den MDK mit der Beantwortung der Fragen „Wurde die korrekte Hauptdiagnose abgerechnet bzw. was hat den Krankenhausaufenthalt veranlasst?" beauftragte und der MDK dem Krankenhaus die Einleitung des MDK-Prüfverfahrens „gemäß § 275 Abs. 1c SGB V" anzeigte. Die Krankenkasse brach später das MDK-Prüfverfahren ab und bestätigte selbst die Richtigkeit der Abrechnung. Im Verlauf des Klageverfahrens teilte die Krankenkasse mit, sie habe „auf Grund der langen Bearbeitungszeit durch den MDK [den Fall] intern mit einer Kollegin mit medizinischer Ausbildung besprochen"; die medizinische Notwendigkeit des stationären Aufenthaltes sei bestätigt worden. Tatsächlich war Gegenstand des MDK-Prüfverfahrens also nicht nur die richtige Kodierung, sondern auch die medizinische Notwendigkeit der stationären Behandlung und damit die Wirtschaftlichkeit der von dem Krankenhaus erbrachten Leistungen.

Das LSG hatte mit Verweis auf diese Prüfung – auch – der Wirtschaftlichkeit der stationären Behandlung die Aufwandspauschale zugesprochen. Der Abbruch des MDK-Prüfverfahrens durch die Krankenkasse stehe dem Anspruch auf Zahlung der Aufwandspauschale ebenso wenig entgegen. Entscheidend komme es allein darauf an, dass nach Einleitung des MDK-Prüfverfahrens und entsprechendem Aufwand auf Seiten des Krankenhauses keine Minderung der Abrechnung erfolgt sei. Wie das MDK-Prüfverfahren ende, sei hierfür unerheblich.

Das BSG hob diese Entscheidung jetzt auf und verwies lapidar auf seine Rechtsprechung zur sachlich-rechnerischen Richtigkeitsprüfung. Zumindest in dem Terminsbericht geht das BSG mit keinem Wort auf die Feststellung des LSG ein, die Krankenkasse habe auch die Wirtschaftlichkeit der Abrechnung geprüft (was auch nach Rechtsprechung des BSG den Anspruch auf Zahlung der Aufwandspauschale auslösen müsste). Obwohl das BSG nicht zu eigenen Sachverhaltsfeststellungen befugt ist, weicht es insoweit von den Feststellungen des LSG ab. Es darf mit Spannung erwartet werden, wie das BSG dies begründet.

In einem zweiten Verfahren zur Aufwandspauschale hob das BSG eine Entscheidung des SG Marburg auf, die dieses noch vor den Entscheidungen des BSG vom 25. Oktober 2016 (vgl. hierzu unsere Mandanteninformationen November 2016 und März 2017) getroffen hatte.

Das SG Marburg hatte in seiner Entscheidung ausführlich die Rechtsprechung des BSG zur sachlich-rechnerischen Richtigkeitsprüfung kritisiert und ganz maßgeblich auf den entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers abgestellt, der schließlich auch in der Änderung des § 275 Abs. 1c SGB V zum 1. Januar 2016 zum Ausdruck kam. Auch diese Kritik an seiner Rechtsprechung ließ das BSG aber unbeeindruckt. Das BSG sieht weiterhin keine Veranlassung, von seiner Rechtsprechung abzuweichen.

Insoweit muss weiter die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der hierzu mittlerweile anhängigen Verfassungsbeschwerde (Az. 1 BvR 318/17) abgewartet werden.